Tokajhegyaljai Állami Gazdasági Borkombinát - Tokaji Szamorodni édes 1959, Tokaj, Ungarn

Einleitung: Ein flüssiges Vermächtnis des Sozialismus

Dieser Wein ist mehr als nur ein Dessertwein; er ist ein historisches Dokument aus einer untergegangenen Ära. Er stammt aus dem Jahr 1959, einer Zeit, in der die ungarische Weinwirtschaft unter der zentralisierten Kontrolle des Tokajhegyaljai Állami Gazdasági Borkombinát (Staatlicher Weinwirtschaftskombinat Tokaj) stand. Ein "Szamorodni" aus diesem Jahrgang, der bereits über 65 Jahre alt ist, bietet eine einzigartige sensorische Reise in die Vergangenheit und ist ein seltener Überlebender der damaligen Massenproduktion unter staatlicher Aufsicht. Der Name "Szamorodni" (polnisch für "wie gewachsen") bedeutet, dass die Trauben mit und ohne Edelfäule (Botrytis cinerea) gemeinsam gekeltert wurden, was diesen Stil von den konzentrierteren Ausbruchweinen (Aszú) unterscheidet.

Sensorische Beschreibung (bei einwandfreier Lagerung)

Bei einem Wein dieses Alters ist der Zustand der Flasche von entscheidender Bedeutung. Eine perfekt gelagerte Flasche kann ein überwältigendes Erlebnis bieten.

Farbe

• Tiefes, undurchsichtiges Mahagoni bis Olivbraun mit bernsteinfarbenen Reflexen. Die intensive Farbe ist ein Resultat jahrzehntelanger Oxidation und Konzentration.

Nase

Das Bukett ist intensiv, komplex und von der typischen "Rancio"-Note geprägt, die bei alten, oxidativ ausgebauten Süßweinen entsteht.

• Trockenfrüchte: Rosinen, getrocknete Feigen, Backpflaumen, Datteln und Aprikosenkonfitüre.

• Nüsse & Gewürze: Walnuss, Haselnuss, bittere Mandel, Honigwabe, Karamell, Zimt und eine Note von dunklem Rum.

• Oxidative Noten: Die charakteristische Rancio-Note: eine Mischung aus alten Holzmöbeln, Sherry (Oloroso), englischem Walnuss-Sherry und feuchtem Keller.

• Botrytis: Selbst nach all den Jahren ist oft noch ein Hauch der edlen Fäule wahrnehmbar: eine honigartige, leicht pilzige Note.

• Säure: Erstaunlicherweise schimmert oft eine frische, apfelsäureartige Note durch, die dem Wein Lebendigkeit verleiht.

Gaumen

Am Gaumen offenbart sich die Magie der langen Reifung.

• Textur: Ölig, fett und extrem konzentriert, jedoch nie klebrig. Die Süße ist durch die lebendige Säure und die alkoholische Wärme perfekt ausbalanciert.

• Geschmack: Eine Explosion der auf der Nase wahrgenommenen Aromen: Rosinen, Nüsse, Karamell und Rancio in harmonischer Verschmelzung.

• Säure: Die erhaltende Säure ist das Geheimnis der Langlebigkeit dieses Weines. Sie schneidet durch die Süße und verleiht dem Wein eine unglaubliche Frische und Länge.

• Abgang: Extrem lang und anhaltend, minutenlang hallen die Aromen von getrockneten Früchten, Nüssen und einer angenehm bitteren Note (wie bei Orangenschale oder gerösteten Kaffeebohnen) nach. Die Süße verschwindet sauber, ohne einen klebrigen Eindruck zu hinterlassen.

Historische Einordnung & Herstellung

Jahrgang 1959 in Tokaj

• Ein sehr guter, warmer Jahrgang, der die Entwicklung von Edelfäule begünstigte. Solche Jahrgänge waren die Basis für langlebige Süßweine.

• Die Weine aus dieser Zeit wurden oft lange in großen Eichenfässern (Gönci-Fässer) gelagert, was den oxidativen Charakter und die Rancio-Noten förderte.

Der Staatskombinat (Állami Gazdasági Borkombinát)

• In der sozialistischen Ära (bis 1989) wurden fast alle Tokajer Weingüter in diesem staatlichen Großbetrieb zusammengefasst.

• Die Qualität konnte schwanken, aber die besten Jahrgänge und Lagerfässer produzierten dennoch außergewöhnliche Weine mit enormem Alterungspotenzial.

• Flaschen aus dieser Zeit sind heute historische Raritäten und Zeugnisse einer anderen Herstellungsphilosophie.

Szamorodni-Stil

• "Édes" (süß): Im Gegensatz zum trockenen ("száraz") Szamorodni.

• Die Trauben wurden ohne strenge Selektion gelesen: ein Gemisch von gesunden, überreifen und von Edelfäule befallenen Beeren.

• Ergibt einen weniger konzentrierten, aber oft zugänglicheren und früher trinkreifen Wein als ein Aszú.

Trinkreife, Zustand & Risiko

Aktuelle Trinkreife

Der Wein hat seit langem sein optimales Trinkfenster erreicht und befindet sich auf einem Plateau der Komplexität. Bei einwandfreier Lagerung kann er sich noch Jahre, sogar Jahrzehnte halten, aber es ist keine weitere Verbesserung zu erwarten.

Risikofaktoren

1. Füllstand: Entscheidend. Ein niedriger Füllstand (unter der Schulter) deutet auf zu viel Oxidation hin.

2. Kork: Alte, brüchige Korken sind eine Gefahr.

3. Lagerung: Konstante, kühle Temperaturen waren über 65 Jahre essentiell.

Empfehlung

Nicht weiter lagern, sondern mit der entsprechenden Ehrfurcht öffnen. Der Wein sollte unbedingt stehend gelagert werden, um das Depot zu separieren.

Bewertung & Empfehlungen für den Genuss

Bewertung (für eine perfekte Flasche): 95/100 Punkte

Die Bewertung würdigt die historische Bedeutung, die erstaunliche Frische und Komplexität nach über 65 Jahren und das einzigartige Geschmacksprofil eines gereiften Tokajers aus einer vergangenen Epoche.

Empfehlungen für die Behandlung

1. Serviertemperatur: 12-14°C. Keinesfalls kühlschrankkalt, da sich sonst die Aromen nicht entfalten.

2. Dekantieren: Vorsichtig dekantieren, um das Depot (ein beträchtlicher Bodensatz ist normal) von der klaren Flüssigkeit zu trennen. Nicht zum Belüften.

3. Glas: Ein mittelgroßes Weißweinglas oder sogar ein kleiner Sherry-Copita ist ideal.

4. Begleitung:

   • Pur als Meditationswein ist er am besten.

   • Desserts: Nur zu sehr dezenten, nicht zu süßen Desserts wie Nußtorte, Käsekuchen oder Trockenfrucht-Compot.

   • Käse: Blauschimmelkäse (Roquefort, Gorgonzola) oder reifer, kräftiger Bergkäse.

   • Foie gras ist eine klassische Kombination.

Fazit

Der Tokaji Szamorodni Édes 1959 vom Staatlichen Kombinat ist eine außergewöhnliche und bewegende Weinprobe. Er ist ein Zeitzeuge, der die Fähigkeit großer Tokajer Weine demonstriert, über ein halbes Jahrhundert zu überdauern und dabei an Komplexität und Tiefe zu gewinnen. Jeder Schluck erzählt von der Geschichte des Tokaj, von vergangenen Herstellungsmethoden und von der unvergänglichen Magie der Verbindung von Edelfäule, Säure und Zeit. Das Öffnen einer solchen Flasche ist kein alltäglicher Genuss, sondern ein feierliches, fast zeremonielles Ereignis für jeden Liebhaber historischer Weine. Es ist die Gelegenheit, ein flüssiges Stück europäischer Weingeschichte zu kosten – kraftvoll, komplex und unvergesslich.