Reichsrat von Buhl - Forster Ungeheuer Riesling Auslese 1957, Pfalz, Deutschland

Einleitung: Ein Ungeheuer von Eleganz

Diese Flasche verkörpert die faszinierende Zwischenstufe einer großen deutschen Weinepoche. Zwischen den Jahrhundertjahrgängen 1953 und 1959 stehend, repräsentiert der 1957er eine klassische, eher kühle und säurebetonte Prägungsphase, die für langlebige, filigrane Weine prädestiniert war. Eine Auslese aus der berühmten Lage Forster Ungeheuer vom traditionsreichen Weingut Reichsrat von Buhl ist nach über 65 Jahren eine reife Kostprobe pfälzischer Riesling-Kunst – weniger monumental als eine TBA von 1925, aber von einer bezaubernden, voll ausgereiften Komplexität.

Sensorische Beschreibung (bei einwandfreier Lagerung)

Eine perfekt gelagerte Flasche bietet das vollendete Bild eines gereiften, edelsüßen Rieslings, der seine jugendliche Frucht in eine vielschichtige, tertiäre Aromenwelt transformiert hat.

Farbe

• Ein strahlendes, mittleres Goldgelb bis Altgold mit bernsteinfarbenen und grünlichen Reflexen. Die Farbe verrät Reife und eine gewisse Dichte, ist aber nicht so extrem dunkel wie bei einer noch älteren oder konzentrierteren Prädikatsstufe.

Nase

Das Bukett ist intensiv, fein und von einer wunderbar ausgewogenen Mischung aus reifer Frucht, Botrytis und ersten Oxidationsnoten geprägt.

• Gereifte Stein- & Zitrusfrüchte: Aprikosenkonfitüre, Mirabellenmus, eingemachte Zitrone, getrocknete Ananasscheiben.

• Botrytis & Honig: Klare Noten von Honigwabe, Bienenwachs, Gräserhonig und eine dezente edel-pilzige Nuance.

• Erste Rancio-Noten: Eine elegante Andeutung von Walnuss, Haselnuss und Mandelgebäck („Russischer Zupfkuchen“) – das Zeichen beginnender, edler Oxidation.

• Mineralik: Die charakteristische, kühle Mineralität des Ungeheuer (Buntsandstein mit vulkanischen Einlagen) schimmert als salziger, rauchiger Unterton durch.

• Würze: Zarte Noten von Ingwer, Safranfäden und eine blumige Erinnerung an Akazie.

Gaumen

Am Gaumen ist der Wein von einer perfekten Harmonie zwischen Süße, Säure und Textur.

• Textur: Seidig, saftig und von mittlerer Dichte. Er ist süß, aber durch die lebendige Säure leichtfüßig und elegant, nicht schwer oder sirupartig.

• Säure: Das strukturelle Rückgrat. Die Säure ist immer noch erstaunlich präsent, lebendig und trägt den süßen Wein federnd. Sie ist der Grund für seine Frische und Länge.

• Geschmack: Eine präzise Spiegelung der Nase: Aprikose, Honig, eine nussige Würze und die salzige Mineralität entfalten sich schichtweise.

• Süße: Die Süße ist voll integriert und wirkt als geschmackliche Fülle und Wärme, nicht als dominante Zuckerwelle.

• Abgang: Sehr lang und komplex. Der Nachhall von gereifter Aprikose, Honig, einer rauchig-mineralischen Note und einer erfrischenden Bitterkeit (Zitronenschale) bleibt lange bestehen und lädt zum Nachsinnen ein.

Historische & Terroir-Einordnung

Jahrgang 1957 in Deutschland

• Ein guter, klassischer und säurebetonter Jahrgang. Er folgte auf den großen 1953er und wurde vom legendären 1959er überstrahlt. Die Weine sind bekannt für ihre Eleganz, filigrane Struktur und bemerkenswerte Langlebigkeit. Sie reiften langsam und entwickelten sich zu Weinen von großer Finesse.

Lage "Forster Ungeheuer"

• Eine der großen Einzellagen der Pfalz. Der Name ("Ungeheuer" = Ungeheuer) bezieht sich der Legende nach auf einen mythischen Drachen oder auf die "ungeheure" Größe und Qualität der dort wachsenden Weine.

• Boden: Dominierend ist farbiger Buntsandstein, durchsetzt mit Einlagen von vulkanischem Melaphyr-Gestein. Dies verleiht den Rieslings eine charakteristische kräftige, rauchig-würzige Mineralität, Tiefe und eine extraktreiche Struktur – die perfekte Basis für lagerfähige Auslesen.

Reichsrat von Buhl in den 1950ern

• Das Weingut befand sich in der Nachkriegszeit in einer Phase der Konsolidierung und gehörte weiterhin zur absoluten Spitze der Pfalz. Die Weine dieser Ära zeugen von einem traditionellen, terroirzentrierten Stil.

Trinkreife, Zustand & Risiko

Aktuelle Trinkreife

Der Wein hat sein optimales Trinkfenster voll erreicht und befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung. Die tertiären Aromen sind voll ausgebildet, die Säure ist noch intakt. Er sollte nun genossen werden.

Kritische Zustandskriterien

1. Provenienz: Entscheidend. Kühle, dunkle, konstante Lagerung über 65 Jahre war nötig.

2. Füllstand: Sollte mindestens "upper-Shoulder" sein. Ein höherer Füllstand ("top Shoulder") ist ideal.

3. Kork: Der Korken ist in einem kritischen Alter. Das Öffnen erfordert Vorsicht.

Risiko bei Öffnung

• Mittel bis hoch. Während der Wein robuster sein mag als eine prä-WWII-Flasche, besteht immer das Risiko von Korkfehlern, Überoxidation oder einfacher Erschöpfung.

Bewertung & Empfehlungen für den Genuss

Bewertung (für eine perfekte Flasche): 94-96/100 Punkte

Ein Riesling von zeitloser Schönheit und großartiger Reife, der die Eleganz des Jahrgangs und die kraftvolle Mineralität der Lage in idealer Weise vereint.

Empfehlungen für das Ritual

1. Ruhephase: Die Flasche 24-48 Stunden vorher unbewegt stehen lassen.

2. Öffnen: Behutsam, mit einem hochwertigen Zweizack-Korkenzieher. Bereit sein, den Wein zu filtern.

3. Dekantieren: Vorsichtig dekantieren, nicht zu lange Belüften.

4. Serviertemperatur: 8-10°C. Nicht zu kalt, um die Komplexität nicht zu betäuben.

5. Glas: Ein großes, tulpenförmiges Weißweinglas.

6. Begleitung: Dieser Wein ist die Speise. Pur genießen. Mögliche, dezente Begleiter:

   • Foie gras (klassisch).

   • Kräftiger Blauschimmelkäse (Roquefort, Gorgonzola).

   • Nuss- oder Mohnkuchen (nicht zu süß).

   • Einfach als Meditation.

Fazit

Der Reichsrat von Buhl Forster Ungeheuer Auslese 1957 ist ein vollendeter, klassischer deutscher Riesling von historischem Format. Er zeigt nicht die überwältigende Kraft eines Jahrhundertjahrgangs, sondern die nachhaltige, tief verwurzelte Schönheit eines groß gewachsenen Weines aus einem exzellenten Terroir. Er ist ein Beweis für die Langlebigkeit pfälzischer Spitzenrieslinge und für die transformative Kraft der Flaschenreife. Eine solche Flasche zu öffnen, ist eine Reise in die gemäßigte Eleganz der 1950er Jahre Weinkultur – ein ergreifendes, komplexes und absolut lohnendes Geschmackserlebnis für den Kenner. Ein Juwel, das seinen Namen "Ungeheuer" in der besten, nämlich der qualitativ erhabenen Bedeutung des Wortes, alle Ehre macht.